Klage in Den Haag: Ist Deutschland Gehilfe eines Völkermords?

Von Martin Klingst

8. April 2024, 5:43 Uhr

Nicaragua klagt vor dem Internationalen Gerichtshof gegen Deutschland. Es wirft dem Land Beihilfe zum Genozid in Gaza vor. Das Ansinnen geht an der Realität vorbei.

Richter und Richterinnen des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag
© Piroschka van de Wouw/Reuters

Warum klagt Nicaragua vor dem Haager Weltgericht ausgerechnet Deutschland an, mit seiner Unterstützung für Israel die Völkermordkonvention zu verletzen und einen Genozid zu unterstützen?

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Man kann Deutschland vielleicht eine verkorkste Nahostpolitik vorwerfen, auch eine zu große Nachsicht gegenüber möglichen Kriegsverbrechen Israels und eine gewisse Scheinheiligkeit bei den Menschenrechtsstandards. Auch kann man die Lieferung von Waffen kritisieren.

Aber tragen die deutsche Militärhilfe an Israel sowie der vorübergehende Stopp von Geldzahlungen an die UN-Hilfsorganisation UNRWA in Gaza wirklich zu dem behaupteten Genozid an der palästinensischen Bevölkerung bei? Ist Deutschland Gehilfe eines Völkermords?

So jedenfalls argumentiert Nicaragua und hat deshalb den Internationalen Gerichtshof in Den Haag (IGH) ersucht, Deutschland schon mal per Eilentscheidung zu sofortigen Schutzmaßnahmen gegenüber den Menschen in Gaza zu verpflichten: zur Einstellung aller Waffenexporte nach Israel - und zur Wiederaufnahme der finanziellen Hilfe für den Gaza-Zweig der UNRWA. Über diesen Eilantrag wird heute und morgen vor dem Weltgericht verhandelt.

Das schwerste aller Verbrechen

Nicaraguas Vorwurf wiegt schwer, Völkermord ist das schwerste aller Verbrechen. Doch noch nie standen eine Völkermordklage und der mit ihr verbundene Eilantrag auf vorläufige Schutzmaßnahmen auf so tönernen Füßen - faktisch wie rechtlich. Darum hat sich der IGH mit dem Prozessbeginn wohl auch viel Zeit gelassen. Ein guter Monat ist seit dem Antrag Nicaraguas vergangen, was für Eilverfahren eher ungewöhnlich ist.

Die Völkermordkonvention von 1948 bestimmt, dass ein Genozid stets die Absicht voraussetzt, ein Volk, eine Ethnie oder eine Religionsgemeinschaft ganz oder in Teilen zu zerstören. Nach der Rechtsprechung des IGH darf diese Vernichtungsabsicht nicht nur eines von mehreren Motiven, sondern muss der zentrale Beweggrund sein.

Schon als Südafrika im Januar vor dem Weltgericht Israel des Genozids im Gazastreifen bezichtigte und ebenfalls einen Eilantrag auf vorläufige Schutzmaßnahmen stellte, war die Skepsis groß, ob man von einer Völkermordabsicht sprechen kann: wenn Israel zugleich Hilfslieferungen erlaubt, Flugblätter mit Bombenwarnungen abwirft und Fluchtwege öffnet, auch wenn diese Mittel insgesamt völlig unzureichend sind. Wie groß müssen dann erst die Zweifel anlässlich der Behauptung Nicaraguas sein, Deutschland kenne Israels Genozidintention und helfe trotzdem bei der Zerstörung der palästinensischen Bevölkerung.

Bis der IGH über den Genozidvorwurf entscheidet, werden ein, zwei Jahre ins Land gehen. Doch dem Eilantrag Südafrikas hat das Gericht zügig und in weiten Teilen stattgegeben. Israel wurde zu sofortigen umfangreichen Schutzmaßnahmen für die palästinensische Bevölkerung verpflichtet.

Geringere Beweishürden bei Eilverfahren

Der Grund: Im Eilverfahren liegen die Beweishürden für einen Völkermord niedriger. Es reicht zum einen aus, dass der Genozidvorwurf nicht von vornherein als völlig aus der Luft gegriffen erscheint, es also eine gewisse Plausibilität gibt. Und zum anderen, dass ein sofortiger besserer Schutz der Zivilbevölkerung vermeiden könnte, dass sich die katastrophale humanitäre Lage in Gaza noch weiter verschlimmert und tatsächlich irgendwann in einen Völkermord mündet.

Und was folgt aus diesem Fall für Nicaraguas Eilantrag gegen Deutschland? Dass die sofortige Einstellung deutscher Waffenlieferungen und die Wiederaufnahme der UNRWA-Zahlungen die Lage in Gaza nicht nur verbessern, sondern auch dabei helfen würden, einen möglichen Genozid zu verhindern.

Doch das Ansinnen Nicaraguas geht an der Realität vorbei. Mit weitem Abstand sind die Vereinigten Staaten Israels größter Waffenlieferant, und neben Deutschland statten auch Frankreich, Großbritannien und viele weitere Staaten die israelischen Streitkräfte mit Militärgerät aus. Außerdem beteuert die Bundesregierung, dass sie gegenwärtig keine Waffen nach Israel schicke, schon gar keine tödlichen. Die meisten Verträge bezögen sich auf logistische Rüstungsgüter und seien lange vor dem Terroranschlag vom 7. Oktober und dem Beginn des Gaza-Kriegs geschlossen worden.

Deutschland leistet viel humanitäre Hilfe

Und die eingefrorenen Zahlungen an UNRWA? Gestoppt wurde nur das Geld für die UNRWA im Gazastreifen, weil der Verdacht besteht, dass eine Handvoll dortiger Mitarbeiter am Terroranschlag der Hamas beteiligt war. Allerdings hat die Bundesregierung die zurückgehaltenen Zahlungen inzwischen mehr als wettgemacht. Deutschland wirft nicht nur in großem Umfang Carepakete aus der Luft ab und beteiligt sich an Transporten auf dem Seeweg, sondern ist weltweit der größte Geldgeber. Kaum ein anderes Land leistet so viel humanitäre Hilfe für die palästinensische Bevölkerung wie Deutschland.

Nicaraguas Klage steht noch aus einem weiteren Grund auf wackligen Beinen: Zwar bindet die Völkermordkonvention ausdrücklich alle Vertragsparteien. Das heißt, auch Staaten, die selbst mit dem Konflikt nichts zu tun haben, dürfen die Verletzung der Konvention durch einen anderen Staat rügen. So konnte das unbeteiligte Gambia den asiatischen Staat Myanmar des Völkermords an den Rohingya bezichtigen und das unbeteiligte Südafrika den israelischen Staat des Genozids an den Palästinenserinnen und Palästinensern in Gaza.

Doch Myanmar und Israel sind unmittelbare Konfliktparteien, während weder Nicaragua noch Deutschland direkt in Israels Gaza-Krieg involviert sind, nicht einmal um drei Ecken. Sollte das Weltgericht den Kreis möglicher Kläger immer weiter ziehen und dem Eilantrag Nicaraguas gegen Deutschland stattgeben, wird es alsbald in einer Prozessflut ertrinken.


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